Nachdem sich vor einiger Zeit Jürgen Rüttgers intensiv mit den „Lebenslügen“ der CDU befasste, eröffnet nun die thüringische SPD-Abgeordnete Iris Gleicke bei den Sozialdemokraten eine ähnliche Diskussion, wie der Spiegel gestern berichtete. Sie fordert die eigene Partei darin auf, die Vorstellung aufzugeben, in Deutschland sei künftig noch einmal Vollbeschäftigung zu erreichen. Dabei hat sie unter der Überschrift „Die Zeit drängt – Deutschland braucht einen dritten Arbeitsmarkt“ fünfzehn Punkte veröffentlicht, die einer kleinen Betrachtung wert sind.
So schreibt sie unter anderem:
Insbesondere in Ostdeutschland zeigte sich nach dem Zusammenbruch der dortigen industriellen Strukturen, dass die klassischen, ursprünglich zur Überbrückung zeitweiliger Arbeitslosigkeit erdachten Instrumente des Zweiten Arbeitsmarktes, wie die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), nicht in neue sozialversicherungs-pflichtige Beschäftigung, sondern in der Regel spätestens nach Ablauf des zweiten Jahres in neuer Arbeitslosigkeit mündeten. Gleichzeitig entstanden – ebenfalls zuerst in Ostdeutschland – die „Weiterbildungskarrieren“, an deren Ende allzu oft die Arbeitslosigkeit stand und steht. Die Betroffenen sehen sich bis heute vor der völlig grotesken Situation, für nicht existente Jobs bestens qualifiziert zu sein.
Was Frau Gleicke hier beschreibt, sind die Folgen eines planwirtschaftlichen Lösungsmodells für ein wirtschaftliches Problem. Wie wir sehen werden, sucht sie allerdings nicht nach Möglichkeiten, dieses Modell durch Einführung marktwirtschaftlicher Komponenten für die Betroffenen zu verbessern, sondern möchte vielmehr mit noch mehr Staat das Problem lösen, welches der Staat schon jetzt nicht lösen kann. Allerdings schreibt sie auch:
Die Hartz-Reformen sind keine „Lebenslüge“. Das Prinzip des „Förderns und Forderns“ bleibt vielmehr richtig, denn die Idee der gerechten Teilhabe basiert auf der fundamentalen Einsicht, den Einzelnen dazu zu befähigen, seine Existenz aus eigener Kraft sichern zu können.
Als Lebenslüge sieht sie die Erwartung, allein durch Maßnahmen, die Arbeitsplätze im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig machen, könne künftig Vollbeschäftigung erreicht werden:
Als tatsächliche Lebenslüge hat sich dagegen die lange auch von Sozialdemokraten verfochtene Idee erwiesen, Vollbeschäftigung durch Senkung der Lohnnebenkosten, durch Entlastung der Unternehmen, also durch das plakative Herstellen sogenannter günstiger Bedingungen für einen selbst tragenden Aufschwung und durch Qualifikation und Weiterbildung der Beschäftigten herbeiführen zu können. Heute müssen wir nüchtern feststellen, dass trotz aller Teilerfolge das angestrebte Ziel nicht erreicht worden ist und auf Dauer nicht erreicht werden kann.
Nun kann man Frau Gleicke in keinem Fall unterstellen, ideologisch eine Kapitalismuskritik vom Stapel zu lassen. Im Gegenteil, sie bekennt sich ganz deutlich zur Marktwirtschaft:
Dem genannten Rationalisierungsprozess und der ihn forcierenden Globalisierung mit moralischen Wertungen beikommen zu wollen, ist ein lächerliches Unterfangen. Die kapitalistische Produktionsweise ist weder gut noch böse, sondern eine rationale und höchst effiziente Organisation der Wirtschaft. Sie ist nachweislich erfolgreich in der Produktion immer hochwertigerer, für jedermann erschwinglicher Güter und sichert so der Gesellschaft grundsätzlich breit verteilten Wohlstand auf hohem Niveau.
Nach einigen Ausführungen darüber, dass der „vorsorgende Sozialstaat“ – welcher künftig den „versorgenden Sozialstaat“ ersetzen solle – die Menschen befähigen solle, für sich selbst zu sorgen und damit „zu wirklicher Autonomie und damit zur Freiheit“ befähige (Was für eine Art von Freiheit soll ein vorsorgender Staat bloß gewährleisten?), kommt sie dann zu der Lösung für die „von echter Teilhabe“ Ausgeschlossenen:
Diese Alternativen gilt es dringend über einen bundesweit organisierten dritten Arbeitsmarkt zu schaffen. Für ein entsprechendes flächendeckendes Angebot sind dauerhaft tragfähige Modelle zu entwickeln. Bund, Länder und Kommunen stehen dabei ebenso in der Pflicht wie die Bundesagentur für Arbeit und die zuständigen Träger. Den Arbeitswilligen muss die nicht nur theoretische, sondern reale Möglichkeit eröffnet werden, durch eigene Arbeit eine deutliche Verbesserung ihrer Situation zu erreichen.
Bis hier hin hört sich das ganze ja erst einmal ganz gut an. Aber in der Folge geht es so richtig in die Vollen:
Diese Idee ist keineswegs neu, bis jetzt wurde ihre Umsetzung jedoch von einer ganzen Armee von Bedenkenträgern und Vetospielern in den Verwaltungen und Verbänden blockiert. Ihre Argumente sind sattsam bekannt: Durch einen solchen dritten Arbeitsmarkt würden Unternehmen benachteiligt und reguläre Arbeitsplätze gefährdet, so würde etwa die Pflege von Grünflächen durch Arbeitslose die ortsansässigen Gartenbauunternehmen gefährden, und dergleichen mehr. Dass solche Arbeit bislang schlicht nicht erledigt wird, weil die Kommunen in der Regel das Geld hierfür nicht aufbringen können, interessiert scheinbar niemanden. Im Ergebnis steht ein handfester Skandal. Es wird Zeit, sich über diesen Skandal aufzuregen und ihn zu beseitigen.
Und hier kommen dann die planwirtschaftlichen Gedanken ins Spiel. Und was viel schlimmer ist: Warum soll jemand, wenn diese Arbeiten wichtig sind, nicht anständig dafür bezahlt werden? Warum sollen für die Grünanlagen keine Gärtner zu richtigem Gehalt eingestellt werden? Warum sollen nicht Gartenbaubetriebe beauftragt werden, und somit dort Arbeitsplätze geschaffen oder gesichert werden, welche dann über die Lohnnebenkosten zu den Sozialsicherungssystemen beitragen anstatt davon finanziert zu werden? Aber es kommt noch besser:
Denn es ist und bleibt ein unerträglicher Skandal, dass alte Menschen in personell völlig unterbesetzten Senioren- und Pflegeheimen vor sich hinvegetieren, während es genug bereitwillige Menschen gibt, die über den dritten Arbeitsmarkt einen sinnvollen Beitrag dazu leisten könnten, diese Not zumindest zu lindern. Es bleibt ein nicht nachvollziehbarer Irrsinn, dass Jugendzentren keine Betreuer einstellen können und gleichzeitig geeignete Pädagogen arbeitslos zu Hause sitzen und auf den Anruf von der Arbeitsagentur warten, der sowieso niemals kommt. Die Liste der Beispiele für dringend notwendige Arbeit, die trotz eines draußen vor der Tür stehenden Arbeitslosenheeres nicht geleistet wird, ließe sich fast beliebig verlängern. Und neben dieser millionenfachen faktischen Entwürdigung von Menschen machen wir uns schon lange nicht mehr die Mühe, die daraus sich in dramatischem Tempo steigernden gesellschaftlichen Kosten (die „social costs“) in all ihren Facetten ungeschönt darzustellen.
Es ist in der Tat ein Skandal, dass alte Menschen nicht ausreichend betreut werden. Aber noch skandalöser ist es, wenn die Verzweiflung von Menschen, die eine echte Anstellung suchen, ausgenutzt werden soll, um die Probleme zu lösen, die man anderswo selbst geschaffen hat. Vor allem alte Menschen aber auch Jugendliche müssen von gut ausgebildeten Menschen betreut werden. Und gut ausgebildete Menschen haben einen Anspruch auf eine richtige Bezahlung. Denn wenn sich über die billigen Kräfte vom „3. Arbeitsmarkt“ dieselbe Arbeit erledigen lässt, ist der Weg doch einfach: Bisher regulär Beschäftigte werden entlassen und hinterher vom besagten „3. Arbeitsmarkt“ erneut verpflichtet. Oder zumindest werden die Billiglöhner aus dem Inland die Gehälter der regulär Beschäftigten drücken. Das alles geschieht dann zu Lasten der sozialversichert Beschäftigten und der sozialen Sicherungssysteme.
Der dritte Arbeitsmarkt ist kein Allheilmittel. Aber er ist absehbar die einzige Möglichkeit, eine große Zahl von Menschen in eine sinnvolle Beschäftigung zu bringen und ihnen damit ihre Würde zurückzugeben.
Der „3. Arbeitsmarkt“ ist mit Sicherheit kein Allheilmittel. Er ist absehbar eine sichere Möglichkeit, auf Kosten bestehender sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze das Sozialsystem durch Ausgabensteigerungen und Verringerung von Einnahmen komplett an die Wand zu fahren. Es ist 16 Jahre nach der Wiedervereinigung der Versuch, in der DDR bereits gescheiterte Rezepte durch die kalte Küche wieder einzuführen. Konsequent zu Ende gedacht könnte man von der Vorstufe der Wiedereinführung des Arbeitsdienstes sprechen. Insofern ist auch die folgende Ausführung dann auch mehr als an den Haaren herbei gezogen:
Sinkende Wahlbeteiligung und Parteiverdrossenheit sind nur die Vorboten einer Bedrohung, die sehr viel weiter reicht. Längst leiten Nazis und Neonazis die psychosozialen Folgen der Massenarbeitslosigkeit auf ihre braunen Mühlen. Ihre Argumente gewinnen ihre Kraft nicht nur aus dumpfen Parolen, sondern auch und vor allem aus der realen und berechtigten Angst vor dem sozialem Absturz ins Bodenlose, aus Hoffnungslosigkeit und Resignation angesichts eines hermetisch abgeriegelten Arbeitsmarktes. Wer den Rechtsextremisten Einhalt gebieten will, muss ihren Argumenten den Boden entziehen und den Arbeitsmarkt um einen dritten, bundesweit wirksamen Bereich erweitern.
Mir ist es egal, ob die Marktwirtschaft von rechts oder links ausgehebelt werden soll. Nachdem der Staat schon nachgewiesen hat, dass er mit dem 2. Arbeitsmarkt anerkanntermaßen keine Ergebnisse erzielt hat, sollte man ihn konsequent daran hindern, auf der neuen Spielwiese eines „3. Arbeitsmarktes“ weiterhin sinnlos Geld aus den sozialen Sicherungssystemen zu ziehen und noch mehr Menschen zu entmündigen. Die Aufgabe des Staates ist es, Rahmenbedingungen für eine gesunde Wirtschaft zu schaffen und die Bürger zu befähigen, sich in einem freien Wirtschaftssystem durchzusetzen. Dazu gehört vor allem Bildung, Bildung und noch einmal Bildung. Mit dem „3. Arbeitsmarkt“ versucht Frau Gleicke den Menschen populistisch eine Lösung vorzuführen, von der sie genau weiß, dass sie nicht funktionieren wird, dass sie viel Geld kosten wird und die nur den Vorteil hat, dass ja unsere Kinder schlussendlich die Kosten tragen müssen und nicht wir. Insofern wäre es die konsequente Fortsetzung bisheriger bundesdeutscher Sozialpolitik.
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