Feb 102007
 

Beim letzten Mal schrieb ich darüber, dass die Erkenntnis John Stuart Mills, dass auch eine demokratische legitimierter Staat sich nicht in private Bereiche seiner Bürger einzumischen habe, von geradezu beängstigender Aktualität sei. In diesem Abschnitt gehe ich darauf ein, dass Mill die Ansicht vertritt, dass jede Meinung und jeder Glaube sich fortwährend der Kritik zu stellen habe, wenn er nicht zur bloßen Phrasenreiterei verkommen und auf lange Sicht Schaden nehmen soll.

Wenn sich jedoch die schädliche Auswirkung des Fehlens einer freien Diskussion – sofern die angenommenen Meinungen stimmen – darauf beschränkt, daß die Leute über die Wurzeln ihrer Erkenntnis in Unwissenheit bleiben, so ließe sich sagen, dies sei zwar in geistiger Hinsicht schlimm, nicht aber in moralischer: es berühre nicht den Wert der Lehren hinsichtlich ihres Einflusses auf den Charakter. Tatsache jedoch ist, daß bei Fehlen einer Diskussion nicht nur die Wurzeln der Erkenntnis vergessen werden, sondern zu oft auch die Bedeutung der Erkenntnis selbst. Die Worte, welche diese übermitteln, hören auf, Ideen einzugeben oder regen nur einen kleinen Teil derjenigen an, die sie ursprünglich mitzuteilen bestimmt waren. Statt einer lebhaften Vorstellung und eines lebendigen Glaubens bleiben nur ein paar aus Gewohnheit behaltene Phrasen zurück; oder wenn doch noch etwas übrig bleibt, so sind es eher die Schalen und Hülsen des Gedankens als die Essenz, die verflogen ist. Das große Kapitel der Geistesgeschichte, welches von dieser Tatsache in Anspruch genommen und ausgefüllt wird, kann man nicht ernst genug durchforschen und durchdenken.

Es ist illustriert durch die Erfahrungen fast aller ethischen Lehren und religiösen Bekenntnisse. Sie sind voll von Bedeutung und Lebendigkeit für die, welche sie hervorbringen und für die unmittelbaren Jünger und Begründer. Ihre Bedeutung ist weiter in unverminderter Stärke zu verspüren und wird vielleicht sogar noch voller ins Bewußtsein gehoben, solange der Kampf andauert, einer Lehre oder einem Glauben Übergewicht über andere zu geben. Am Ende gewinnt er entweder die Oberhand und wird zur allgemeinen Meinung, oder sein Fortschritt stockt, er behält den Besitz des gewonnenen Bodens, hört aber auf, sich weiter auszudehnen. Tritt nun erst eine dieser Erscheinungen ein, so erschlaffen die Kämpfe um diesen Gegenstand und schwinden allmählich dahin. Die Doktrin hat ihren Platz eingenommen, wenn nicht als anerkannte Meinung, so doch als zugelassene Sekte oder Abteilung davon. Ihre Anhänger haben sie gewöhnlich ererbt, nicht erwählt, und Übertritt zu einer andern Lehre – nun ein Ausnahmefall – nimmt in den Gedanken der Bekenner nur wenig Platz ein. Statt wie zu Anfang stets auf dem Posten zu sein, sich gegen eine Welt zu verteidigen oder diese zu sich herüberzuziehen, haben sie sich zur Ruhe gesetzt und hören weder – wenn sie es vermeiden können – den Gründen gegen ihren Glauben zu, noch stören sie Andersgläubige (wenn welche da sind) mit positiven Argumenten. Von diesem Zeitpunkt an kann man gewöhnlich vom Verfall der Lebenskraft eines Glaubens sprechen. […]

Wenn man sich anhand dieser Beschreibung im näheren oder weiteren Lebensumfeld umsieht, findet man mit Sicherheit viele zutreffende Beispiele. Mir sind sofort zahlreiche eingefallen. Ihnen nicht?

Kommentare sind derzeit nicht möglich.