Der von mir sehr geschätzte Alt-Bundespräsident Roman Herzog hat sich mit seinen Äußerungen zu möglichen Änderungen des Wahlrechts wohl ein wenig vergaloppiert. Er glaubt aufgrund der hessischem Verhältnisse, dass es in unseren Parlamenten für die Regierungen zunehmend schwieriger wird, sich die nötigen Mehrheiten zu beschaffen.
Zunächst einmal bleibt festzuhalten, dass in Schleswig-Holstein schon seit langem 5 Parteien im Parlament vertreten sind. Ich habe nicht feststellen können, dass deshalb die Regierungen nicht stabil gewesen wären. Die Tatsache, dass es auch hier zu einer so genannten Großen Koalition gekommen ist, war ausschließlich der Tatsache geschuldet, dass es Heide Simonis nicht gelang, bei ihrer angestrebten Wahl zur Ministerpräsidentin alle Stimmen ihrer Mehrheit aus SPD, Grünen und SSW hinter sich zu bringen.
Es spricht also nicht die Anzahl der Parteien gegen die Möglichkeit zur Bildung einer stabilen Regierung, sondern die mangelnde Bereitschaft der Parteiführungen, inhaltlich miteinander zu arbeiten – allen Unterschieden zum Trotz. Das Problem in Hessen ist ja gar nicht, dass diese inhaltliche Zusammenarbeit nicht möglich wäre. Im Gegenteil: Ich bin mir ziemlich sicher, dass SPD, Grüne und Linke durchaus eine große inhaltliche Schnittmenge aufweisen. Das Problem ist gewesen, dass vorher bestimmte Formen der Kooperation – nicht nur von der SPD – kategorisch ausgeschlossen wurden, weil die Beteiligten Wahltaktik über politische Verantwortung stellten. Meine Kritik richtet sich weiterhin nicht grudnsätzlich gegen eine mögliche Zusammenarbeit von SPD und Linken, sondern ausschließlich gegen die Tatsache, dass genau diese vor der Wahl explizit ausgeschlossen wurde und jetzt trotzdem versucht wurde.
Die Parteien müssen sich bemühen, sich aus der selbst gestellten Falle zu befreien, sich selbst festen Lagern zuzuordnen. Die Aussage zur Wahl kann eigentlich nur sein: „Wir haben unserer Ziele definiert. Wir werden nach der Wahl prüfen, wie viele dieser Ziele wir umsetzen können und wieviel wir dafür an anderer Stelle nachgeben müssen. Wenn diese Bilanz für unsere Wähler positiv ausfällt, werden wir das in Summe beste Angebot einer Zusammenarbeit annehmen. Gibt es kein Angebot mit einer positiven Bilanz, dann gehen wir in die Opposition.“
Wer dabei mit wem zusammen arbeitet, ist doch zweitrangig. Die Parteien werden gewählt, möglichst viel der Programmpunkte umzusetzen, die sie ihren eigenen Wählern vor der Wahl als Ziele genannt haben. In irgendeiner Kombination wird für alle an einer Regierung Beteiligten das beste Ergebnis heraus kommen. Wenn man sich nicht vorher selbst in ein politisches Lager sperrt, kann man hinterher prinzipiell auch mit allen gewählten Parteien koalieren. Ist man der Meinung, dass eine Partei nicht dem demokratischen Spektrum angehört, wird wohl allein die Rechnung nach der inhaltlichen Bilanz in der Summe schon nicht aufgehen. Dafür muss man nicht vorher schon brüllen: „Mit denen nicht!“. Das ergibt sich ganz von selbst über die Inhalte. Ergibt sich das allerdings so nicht, sollte man sich ernsthaft fragen, warum man dann eine Zusammenarbeit bewusst ausgeschlossen hat – und ob es zum Vorteil der eigenen Wähler war.
Was ich nicht akzeptabel finde, ist die Tatsache, dass Roman Herzog den mangelnden Willen der politischen Akteure, ihrer ureigenen Verantwortung gerecht zu werden, dadurch zu lösen versucht, die Stimmen derjenigen Wähler zu entwerten, die nicht dem Mainstream entsprechen – egal, ob es Linke, Rechte, Grüne oder Liberale sind. Jedes Wahlsystem, welches Bürger von der Meinungsbildung ausschließt, welches Mehrheiten auf Kosten von Minderheiten schafft, ist per se ungerecht. Und es ist ein kurieren an Symptomen.
Etwas ganz anderes wäre nötig: Über die Möglichkeit des Kumulierens muss dem Wähler die Möglichkeit eingeräumt werden, die Betonköpfe von den vorderen Listenplätzen raus- und sachorientierte Politiker von den hinteren Listenplätzen ins Parlament hereinzuwählen. Die Unfähigkeit zur Bewegung der Parteien hat zwei Namen: Parteidisziplin und Listendiktatur. Denn wer sich nicht an die Parteidisziplin hält, wird in der Regel mit schlechten Listenplätzen abgestraft. Als Folge erhalten die Wähler ein schlechteres Angebot, als sie eigentlich verdient hätten.
Solange wir aber hinnehmen, dass Politiker nicht vornehmlich ihrem Gewissen, sondern stattdessen ihrem Partei- und Fraktionsvorsitzenden verantwortlich sind, solange können wir am Wahlsystem rumdoktern, wie wir wollen. Politik wird von den handelnden Akteuren gemacht, nicht vom System. Vielleicht fällt diese Erkenntnis aber jemandem, der wie der Alt-Bundespräsident selbst aus diesem System stammt, besonders schwer.
Wäre man gehässig, könnte man Roman Herzog mangelnde Konsequenz vorwerfen: Wer sagt eigentlich, dass bei dem von ihm vorgeschlagenen „romanischen Mehrheitswahlrecht“ (Ein prima Wortspiel in diesem Zusammenhang…) nicht auch Probleme auftreten werden, eine stabile Regierung zu bilden? Wieso denn nicht gleich einen Einparteienstaat? Da ist die Regierungsbildung dann einfach und die Stabilität gesichert.
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