Mrz 082008
 

Und dem Titel „Zersetzte Partei ohne Zentrum“ schreibt der mittlerweile auf Spiegel Online wohl unvermeidliche Professor für Politikwissenschaft, Franz Walter, darüber, wie trist und hoffnungslos die Lage in der SPD nicht nur aufgrund des Wahllügen-Debakels in Hessen ist. Allerdings greift die Analyse zu kurz und idealisiert gar zutiefst undemokratische Zustände der Vergangenheit.

Dabei ist die Analyse des Göttinger Professors nicht unbedingt falsch, wenn er schreibt:

Der Typus des hochaktiven Funktionärs, der die Maschinerie der Organisation und Aktion virtuos beherrschte, der in seinem Umfeld einen Deutungs- und Orientierungsvorsprung besaß, auf diese Weise Kommunikator und Kampagnero zugleich war – dieser Typus ist weitgehend verschwunden.

Das ist richtig, aber die Tatsache beschreibt nicht ausschließlich die Situation der SPD, sie ist mittlerweile in allen Parteien zu finden. Und sie ist auch Ausdruck einer größeren Selbständigkeit der Parteimitglieder im Denken und Handeln – also eine durchaus auch positive Entwicklung. Denn solche Mitglieder können einen „Deutungs- und Orientierungsvorsprung“ nur dann akzeptieren, wenn er sich in besonderen (Sach-)Kompetenzen begründet.

In einer in allen Parteien zunehmend durchideologisierten Parteiprogrammatik, die eher in Schubladen und Lagern als in sachorientierten Lösungen denkt, fällt es immer mehr Parteimitgliedern zunehmend schwer, kritiklos das nachzuplappern, was das Führungspersonal vorgibt. Insofern beschreibt Wagner eine grundlegende Entwicklung, die nicht nur auf Parteien beschränkt ist und das größere Selbstbewusstsein von Mitgliedern und Bürgern beschreibt. Absehbar ist, dass die CDU die SPD bei der Mitgliederzahl als Spitzenreiter ablösen wird:

Die CDU wird die SPD in den kommenden Monaten als stärkste Mitgliederpartei ablösen. Etliche sozialdemokratische Aktivisten sind in einer Art inneren Immigration abgetaucht.

Aber auch die Union bleibt von diesem Prozess nicht mehr verschont, wie das Beispiel von Friedrich Merz zeigt. Die Volksparteien geraten zunehmende in Probleme, das von ihnen angepeilte Wählerpotential noch glaubhaft abdecken zu können. Die oben bereits angeführte zunehmende Selbständigkeit der Wähler und bessere Informationsmöglichkeiten in Verbindung mit der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft wirken hier deutlich wahrnehmbar. In allen Parteien wirken diese Probleme:

  • In der SPD nehmen die Konflikte zwischen den Parteirechten vom Seeheimer Kreis und den Linken um Andrea Nahles zu.
  • In der CDU sind die Auseinandersetzungen zwischen dem wirtschaftsiberalen Flügel und den Anhängern der katholischen Soziallehre nach dem dramatischen Linksschwenk Angela Merkels nach der letzten Bundestagswahl und der Demontage von Merz lediglich überdeckt, drohen aber jederzeit wieder auszubrechen. Die Spannbreite in der CDU reicht von Personen wie dem Berliner Spitzenkandidaten der letzten Landtagswahl Friedberg Pflüger, einem Mitglied der Pizza Connection, und dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Öttinger, der einen Nazi-Richter wie Filbinger für einen Freiheitskämpfer hält.
  • Die Grünen sind seit langem in Realos und Fundis gespalten, halten aber mittlerweile grün-liberale wie Oswald Metzger nicht mehr in der Partei.
  • Selbst die Linkspartei ist gespalten zwischen eher bürgerlichen Parteivertretern – zumeist im Osten, wo die Linkspartei teilweise eigene Wirtschaftsvereinigungen betreibt – und Mitgliedern der Kommunistischen Plattform sowie trotzkistischen Ideologen. Hinzu kommen frustrierte Alt-SPDler, die Gerhard Schröder beim Erhalt der Grundlagen unserer sozialen Marktwirtschaft nicht folgen mochten. Die Linke hat ihre internen Probleme erkennbar noch vor sich, wenn zum einen die älteren Parteioberen Lafontaine, Gysi und Biski ausscheiden und zum anderen der die Probleme überdeckende Aufwärtstrend in den Westländern sich verlangsamt oder abstirbt.
  • Am wenigsten betroffen von der Entwicklung ist zur Zeit die FDP, denn diese hat die internen Konflikte innerhalb der Partei mit der so genannten „Wende“ bereits 1982 zu einem großen Teil „aufgearbeitet“, als sie einen großen Teil ihres sozial-liberalen Flügels verlor – maßgeblich an die SPD. Aber auch hier regt sich immer mehr Protest gegen den fast ausschließlich wirtschaftsliberalen Kurs von Guido Westerwelle. Nicht verschwiegen werden kann auch hier, dass sich gerade im Bereich der Bürgerrechte eine große Spannbreite von Personen wie Burkhard Hirsch, Gehard Baum oder Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Überwachungsstaatsverfechtern wie Ingo Wolf auftun.

Wir sehen also, die innerparteilichen Konflikte und Fliehkräfte sind kein Problem der SPD allein.

Weiter beschreibt der Politikwissenschaftler die Auflösung der Strukturen der SPD:

Denn der Zerfall der Strukturen bedeutete zugleich die Erosion von Verbindlichkeiten, Loyalitäten, auch Disziplin.

Die SPD des Jahres 2008 ist dem amorphen Parteitypus der klassischen Liberalen nahegekommen, entspricht ihm fast. Daher geht es in der SPD mittlerweile ebenso chaotisch zu wie über 100 Jahre in den Parteisplittern des bürgerlichen Liberalismus.

Wie bereits oben beschrieben wird das zunehmende Selbstbewusstsein sowie die innere programmatische Spannbreite der Parteien zu einer verstärkten Diskussion führen. Das betrifft im Moment übrigens vornehmlich die Grünen und die SPD – leider nicht die Liberalen, wie der anerkannte FDP-Gegner Walter beschreiben will. Es wäre schön, wenn sich die innerparteiliche Diskussion in der FDP beleben würde – und es zeichnet sich ab. Das, was Wagner hier implizit als Gegenentwurf zum „Verlust der Parteidisziplin“ beschreibt, sind Kaderparteien, in der die „demokratischen Entscheidungen“ von oben vorgegeben werden. Beispiele dafür sind Poltiker wie Adenauer, Wehner, Kohl, Schröder oder auch Merkel. Kurt Beck ist damit jetzt gescheitert, die ersten stehen auf und fordern auch parteiintern Demokratie ein, während die Oberen wie Steinbrück, Steinmeier und Struck noch kneifen. Und auf Wehner geht Franz Walter wie folgt direkt ein:

Man muss sich vorstellen, wie Herbert Wehner, der legendäre Zuchtmeister der Partei der sechziger und siebziger Jahre, mit Jürgen Walter umgesprungen wäre. Jenem zweiten Mann hinter Ypsilanti in der hessischen SPD, der genüsslich Tag für Tag den Pressevertretern erzählte, dass er die Strategie seiner Chefin für durch und durch abwegig halte.

Unter Wehner hätte er das politisch nicht überlebt. In der neuen SPD dürfte dem ehrgeizigen Netzwerk-Sozialdemokraten noch eine große Karriere bevorstehen.

Hier idealisiert er den eiskalten Machtpolitiker, der für die Erreichung seiner Ziele gnadenlos über Leichen ging, dem gerade die oben noch beschriebene Loyalität gegenüber Mitstreitern nichts bedeutete. Wagner verfährt kritiklos und ganz simpel nach dem Motto: „Früher war alles besser. Sogar die Zukunft.“

Seine Analyse der fehlenden Mitte der SPD ist ja durchaus richtig:

Denn in der SPD ist dadurch in der Mitte der Partei ein Vakuum entstanden. Die deutschen Sozialdemokraten stehen ohne Zentrum da – einzigartig in ihrer Geschichte. Dort, wo die Verknüpfung, Integration und der Ausgleich hergestellt wird, von wo die durch Kompromiss legitimierte Orientierung ausgegeben werden sollte, herrscht buchstäblich Leere.

Allerdings hat das weniger mit der Schwäche und mit taktischen Fehlentscheidungen Becks noch mit dem Widerstand gegen seine mögliche Kanzlerkandidatur zu tun, wie Walter glauben machen will. Die SPD ist inhaltlich ausgezehrt und programmatisch nicht ausgerichtet, Formelkompromisse übertünchen das Fehlen einer parteiübergreifend akzeptierten Zielsetzung. Auch damit steht die SPD nicht allein. Zudem hat sie Schaden genommen durch die Agenda-Politik Schröders, die zwar sachlich richtig war, aber eben auch ohne demokratische Legitimation durch die Partei. Schröder hat damit faktisch die WASG gegründet und die Linkspartei starkt gemacht – unterstützt von Müntefering, den „Stones“ sowie Struck. Wenn die grobe Linie nicht fest steht, wie sollen dann Kompromisse zur Umsetzung dieser Programmatik überhaupt geschlossen werden können?

Eine Partei ohne ein anerkanntes operatives Leitungszentrum im Fokus der Partei aber ist zu einer geordneten, strategischen Politik nicht mehr in der Lage.

Das mag ja richtig sein, aber wie ohne Strategie eine „geordnete, strategische Politik“ statt finden soll, bleibt das Geheimnis des Politikwissenschaftlers, der hier eindeutig Symptome mit Ursachen verwechselt.

Ganz am Schluss seines Artikels gelangt Walter dann doch noch zum Thema der Programmatik, allerdings nicht als zentralem Punkt seiner Argumentation, sondern eher als pflichtmäßig abgearbeitetem Anhängsel:

Nicht allein ihre Organisation ist desintegriert, sie kennt auch politisch die Richtung nicht.

Aha. Und wie ist wohl der Zusammenhang? Was ist dabei wohl Ursache und was Wirkung?

Aber es ist noch viel schlimmer. Die Partei kennt nicht nur ihren Kurs nicht, sie verkündet auch einen anderen, als sie praktiziert. Man könnte sagen, sie „schrödert“ weiter, wie Professor Walter richtig ausführt:

Ein halbes Jahr nach dem Hamburger Programmparteitag zeigt sich, dass es nichts nutzt, Sentimentalitäten wie den „Demokratischen Sozialismus“ triumphal in das Programmdokument hineinzuschreiben – obwohl diese Formel die Partei seit Jahrzehnten schon nicht mehr orientiert.

Im Gegenteil: Die gesamte Regierungspraxis der SPD seit 1998 bildet geradezu ein Kontrastprogramm zum Projekt „Sozialismus“.

Und dann beschreibt er noch einmal, dass die von ihm geforderte Kadermentalität der SPD sowie die programmatische Schwäche die eigentliche Katastrophe darstellen:

Die PDS war im Jahr 2003 politisch fast schon gescheitert. Erst die Agenda-Politik riss die Linke unverhofft aus dem Koma. Und die überfallartige Entscheidung für Neuwahlen 2005 durch die Agenda-Matadoren war das hochwillkommene Disziplinierungsinstrument für Lafontaine und Gysi, um aus dem heterogenen Lager links von der SPD binnen weniger Monate eine Partei zu formieren und mit Aplomb wieder in den Bundestag zu katapultieren.

Die ganz und gar einsam getroffene Entscheidung Münteferings zur „Rente mit 67“ dürfte den Weg der Linken in westdeutsche Länderparlamente final geebnet haben.

Kurz: Mangelnde innerparteiliche demokratische Legitimierung der Entscheidungen und fehlende programmatische Klärungen sind die Ursache der Probleme dieser sozialdemokratischen Traditionspartei.

Während Walter die Probleme der SPD richtig beschreibt, liegen die Schwächen seiner Analyse eindeutig in der Darstellung, die den Eindruck erweckt, es handle sich ausschließlich um ein Problem der SPD, sowie in der mangelnden Beschreibung von Ursache und Wirkung.

Abschließend bleibt festzustellen, dass die Probleme der Parteien zum größten Teil selbstverschuldet sind, durch mangelnde programmatische Ausrichtung und das weitestgehende Fehlen innerparteilicher Demokratie, die nicht nur inhaltsleeres Ritual ist. Die Parteien müssen sich weiter entwickeln, geänderten gesellschaftlichen Umständen anpassen. Die SPD hat im Moment ohne Zweifel die größten Probleme, erlebt damit auch den größten Anpassungsdruck. Die übrigen Parteien sollten allerdings aufpassen, dass die Sozialdemokraten deshalb nicht als erste und einzige die nötigen Lehren zieht. Das würde dann ganz schnell zum Problem der Wettbewerber.

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